Eine Odyssee ins Krankenhaus

Eine Odyssee ins Krankenhaus

Während die neuen Corona-Maßnahmen in den Startlöchern stehen, werden in Oberriexingen Erinnerungen an den Fall einer Familie wach. Zu Beginn der ersten Welle erkrankte erst der Vater, dann die Mutter an dem Virus. Dem Mann ging es so schlecht, dass er ins Krankenhaus musste.

Von Claudia Maria Rostek Erstellt: 31. Oktober 2020

Der Oberriexinger Familienvater musste sich lange gedulden, bis er schließlich ins Krankenhaus kam. Symbolfoto: Pixabay

Oberriexingen. „Da kann man auch sagen, den Zweiten Weltkrieg gab es nicht.“ Der Familienvater aus Oberriexingen ist wütend, wenn er Sprüche wie „Corona ist auch nicht schlimmer als ’ne Grippe“ hört. Wer das sagt, solle sich mal mit Leuten unterhalten, die es hatten, findet er. Zwar verlaufe Covid-19 nicht zwangsläufig schlimm. Dass es aber auch vermeintlich kerngesunden Menschen mit einem Schlag furchtbar schlecht gehen kann, erfuhr er am eigenen Leib. Im Frühjahr erwischte es ihn. Er hatte tagelang Fieber, erbrach und sackte schließlich vor dem Ludwigsburger Krankenhaus zusammen.

Rückblick März 2020. Während der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann an einem Freitag im Fernsehen erklärt, dass Schulen und Kindergärten von Dienstag an geschlossen werden, ist der Vater der Familie, die namentlich nicht in der Zeitung genannt werden möchte, auf Geschäftsreise in den USA. Sein Flug, mit dem er eigentlich zurückreisen möchte, wird gestrichen. Doch der Oberriexinger kann einen anderen Flieger nehmen und kommt samstags in der kleinen Stadt an der Enz an. Zu diesem Zeitpunkt geht es ihm noch gut. Am Abend merkt er, dass etwas nicht stimmt. Sonntagmorgen ist er krank. Er fühlt sich abgeschlagen und fiebrig. Seiner Frau kommt sogleich der vage Gedanke: Es könnte Corona sein. Vorsorglich beschließt sie, dass ihre drei Kinder im Kita- und Grundschulalter das Haus ab sofort nicht mehr verlassen. Bei anderen stößt sie zu diesem Zeitpunkt damit auf wenig Verständnis.

Das Fieber steigt, er liegt nur noch im Bett und fühlt sich täglich schlechter

Am nächsten Tag ruft die Familienmutter beim Hausarzt an. Sie erklärt ihm, wo sich ihr Mann in Amerika aufgehalten hat. Da die betreffende Gegend aber nicht als Risikogebiet gilt, werde man keinen Corona-Test machen, sagt man ihr. Stattdessen solle ihr Mann Paracetamol nehmen.

Unterdessen erfährt ihr Mann, der bei seiner Geschäftsreise auch auf einer Tagung mit rund 20 bis 25 Leuten aus verschiedenen Ländern anwesend war, dass ein anderer Besucher der Veranstaltung positiv auf das Corona-Virus getestet wurde. Mit dieser Information kontaktiert seine Frau erneut den Hausarzt und schließlich die Corona-Hotline des Landkreises Ludwigsburg. Ihr Mann könne nun zum Test kommen, heißt es jetzt. Allerdings erst in einer Woche.

Was folgt, ist eine Odyssee, so das Oberriexinger Paar. Der Familienvater beschreibt seinen damaligen Zustand mit nur einem Wort: „beschissen“. Er hat mehr als 40 Grad Celsius Fieber, liegt nur noch im Bett und fühlt sich täglich schlechter. Teilweise geht es ihm so mies, dass seine Frau ihm die Suppe einflößt, damit er überhaupt etwas zu sich nimmt. Der Zustand wird für die Familie zur Belastungsprobe. Die Oberriexingerin muss sich schließlich nicht nur um ihren Mann kümmern, sondern auch die drei Kinder versorgen, inklusive Homeschooling. „Gott segne den Fernseher“, sagt sie dazu nur.

Mit dem Hausarzt telefoniert sie zu dieser Zeit regelmäßig. „Damals war man noch wahnsinnig auf Husten und Atembeschwerden versteift“, erzählt sie heute. Da ihr Mann beide Symptome zu diesem Zeitpunkt noch nicht hat, ist er für den Mediziner kein Fall fürs Krankenhaus. „Er solle denen, denen es richtig schlecht geht, nicht den Platz wegnehmen“, erinnert sich das Paar an die damalige Argumentation.

Doch dem Mann Mitte 40 geht es zunehmend schlechter. Mitte der Woche steigt das Fieber auf 41 Grad Celsius. Seine Frau ruft in der Notrufzentrale an, die sie an den hausärztlichen Notdienst verweist. Dort wird ihr ein Rezept für ein weiteres fiebersenkendes Medikament ausgestellt, das sie in der Apotheke, die Notdienst hat, abholt.

Einen oder zwei Tage später, genau weiß es das Paar nicht mehr, bricht der Familienvater daheim zusammen. Seine Frau wählt den Notruf, wo ihr mitgeteilt wird, dass sie keinen Arzt schicken können. Grund: Es fehlt an Schutzausrüstung. Stattdessen werden Rettungssanitäter geschickt, die dann auch „als Mondmännchen“ kommen, wie sich der Mann erinnert. Seine Frau erzählt von einem ganz freundlichen jungen Mann, der die Vitalwerte ihres Partners prüft und ihr mitteilt, dass er eher die Influenza vermutet. Man überlegt, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, allerdings sei das in Bietigheim-Bissingen gerade voll: „Wir wissen nicht, wo wir ihn unterbringen sollen“, erklären die Sanitäter ihnen. Wieder haben die beiden den Eindruck, er solle anderen, denen es noch schlechter geht, keinen Platz wegnehmen.

Also bleibt der Familienvater daheim. Samstags muss er sich dann übergeben. Seine Frau ruft in ihrer Verzweiflung erneut den Notdienst an. Ein Telefonat, an das sie sich noch gut erinnert: „Zu Ihnen können wir ja demnächst eine Standleitung legen“, sagt man ihr dort.

„Es zeichnete sich immer mehr ab, dass er nicht noch zwei Tage warten kann, bis er getestet wird“, erzählt sie heute. Also kontaktiert sie abermals ihren Arzt an. Doch dieser rät ihrem Mann nur sinngemäß, dass er sich zusammenreißen soll.

Was passiert mit den Kindern, wenn auch die Mutter in die Klinik muss?

Dann ist endlich Montag. Um 10.48 Uhr hat der Oberriexinger an der Teststelle am Ludwigsburger Krankenhaus einen Termin. Seine Frau muss ihn eine Stunde lang überzeugen, bis sie irgendwann ungehalten wird und ihm sagt, dass er „jetzt sofort ins Auto einsteigen soll“. Zu fünft – also mitsamt der drei Kinder – geht es schließlich nach Ludwigsburg. Dort sieht es dann aber wieder nach Warten aus: Vor der Teststelle ist eine große Schlange. Immerhin: Die Wartenden erkennen, wie schlecht es dem Familienvater geht und lassen ihn vor. Endlich kann er sich testen lassen.

Doch die Fahrt nach Ludwigsburg zehrt an seinen Kräften. Noch am Krankenhaus bricht er nach dem Test erneut zusammen und „spuckt sich die Seele aus dem Leib“, wie seine Frau erzählt. Da ist für sie Schluss. Sie eilt zur Teststation zurück und sagt: „Es geht nicht mehr. Wenn er jetzt nicht von einem Arzt angeschaut wird, dann weiß ich nicht mehr, was ich noch tun soll.“ Zu Hilfe kommt ihr ein Feuerwehrmann aus Kornwestheim, der bei der Teststelle im Einsatz ist. „Der Mann muss in die Notaufnahme“, sagt er klipp und klar und eilt kurzerhand selbst dorthin, um die Lage zu klären. Die Oberriexingerin fährt mitsamt ihrem Mann und den Kindern mit dem Auto ebenfalls vor. Schließlich wird ihm ein isoliertes Zimmer zugewiesen. Sie solle noch zur Pforte gehen und ihren Mann anmelden. Das tut sie – und fährt erleichtert heim.

Im Krankenhaus kommt der Familienvater an den Tropf und erhält Sauerstoff. Ein Beatmungsgerät braucht er nicht. Einen Tag später erfährt er sein Testergebnis: negativ, er habe kein Corona. Doch eine Ärztin, die ihn betreut, glaubt das nicht. Die Symptome sind mittlerweile zu eindeutig. Sie veranlasst einen erneuten Test. Diesmal aber nicht in Form eines Abstrichs. Stattdessen wird sein Sputum untersucht. „Das ist der Schleim aus den Bronchien“, erklärt der Oberriexinger. Dieser Test fällt positiv aus. In den nächsten Tagen verbringt der Mitte 40-Jährige weiter isoliert. „Man muss sich das wie im Gefängnis vorstellen. Die Tür ist zwar offen, aber man darf nicht raus“, erzählt er. Nach rund fünf Tagen Alleinsein wird er mit einem anderen Mann, der ebenfalls Covid-19 hat, zusammengelegt. Das tat ihm gut. Ein ungutes Gefühl hinterlässt jedoch die Entwicklung zweier anderer Patienten Mitte 30. Sie müssen, so erfährt es der Oberriexinger vor Ort, auf die Intensivstation. „Da wird einem schon mal anders“, sagt er.

Am 1. April wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Er gilt als genesen. Gut geht es ihm aber noch nicht. Er schleppt sich Richtung Aufzug, um die Klinik zu verlassen. „Das war eine riesengroße Kraftanstrengung. Es war das erste Mal, dass ich mehr als zehn Meter gelaufen bin. Davor bin ich ja nur von meinem Bett zum Tisch, zum Fenster oder zur Toilette gelaufen“, erzählt er.

Seine Frau, die inzwischen auch an Corona erkrankt ist und bis zu 39,6 Grad Celsius Fieber hatte, holt ihn am Krankenhaus mit dem Auto ab. Zuvor hat sie bei der Gemeinde Oberriexingen um Erlaubnis gefragt. Schließlich steht sie zu diesem Zeitpunkt unter Quarantäne und darf das Haus nicht verlassen. Sie lobt die Gemeindeverwaltung ausdrücklich: „Unser Bürgermeister war sehr bemüht. Er hat regelmäßig bei uns angerufen und sich mit der Frage beschäftigt, was mit unseren Kindern passiert, wenn auch ich ins Krankenhaus muss.“

Die Geschichte der fünfköpfigen Familie hat die Rathausmitarbeiter sehr berührt. „Der Fall hat mir gezeigt, wie schnell es gehen kann und dass es nicht nur Ältere trifft und solche, die zur Risikogruppe gehören“, sagt Bürgermeister Frank Wittendorfer über die Geschehnisse im März.

Wieso das Corona-Virus bei dem Oberriexinger Mann so heftig zuschlug, weiß der Familienvater selbst nicht. Er vermutet, dass er „wahrscheinlich ein nicht so tolles Immunsystem“ hat. Vor einigen Jahren hatte er schon eine Autoimmunerkrankung, erklärt er.

Der Fall hat die Oberriexinger Verwaltung früh geprägt

Wie andere Covid-19-Erkrankten fühlten auch er und seine Frau sich nach offizieller Genesung eine ganze Weile angeschlagen. Beide hatten konditionell zu kämpfen. „Nach fünf bis sechs Stunden Arbeit konnte ich nicht mehr. Ich war fertig und müde“, erzählt er. Zudem hatte er Sensibilitätsstörungen an Händen und Füßen und rund 80 Prozent seiner Haare fielen aus. Der Haarausfall ist aber wohl nur eine indirekte Folge der Corona-Erkrankung: „Das kann vom Fieber kommen. Ich habe gelesen, dass man das kriegen kann, wenn man längere Zeit hohes Fieber hat“, merkt er an. Sein Geruchssinn bleibt aber auch heute immer mal wieder weg.

Für Corona-Leugner haben beide kein Verständnis. Dabei geht es ihnen nicht ausschließlich um ihren Verlauf der Erkrankung. Ihnen ist klar, dass es nicht alle so heftig erwischt. Sie geben aber zu bedenken, dass auch andere Erkrankte plötzlich betroffen sein können, wenn Klinikpersonal coronabedingt gebunden ist oder deshalb gar ganz ausfällt.

Für den Oberriexinger Bürgermeister ist der Fall ein „Musterbeispiel dafür, dass das ernst zu nehmen ist“. Entsprechend handelt die Kommune auch, sobald sie von einem neuen Fall erfährt. Normalerweise erhält sie die Info vom Gesundheitsamt. Das kann aber schon mal zeitversetzt passieren. Wittendorfer appelliert deshalb an die Leute, sich beim Rathaus zu melden, sobald sie von ihrer Ansteckung wissen. „Dann können wir frühzeitig reagieren und vorbeugend handeln“, sagt er und verweist auf die Themen Kitas, Schule und Kontaktpersonen.

mit freundlicher Genehmigung der VKZ